Salbungsvoll beginnt das 15-köpfige Ensemble des Theaters Arche sein etwa drei Stunden langes Stationen Theater.
Ein Chor, wie man ihn aus der griechischen Tragödie kennt, schildert unter freiem Himmel eine Auswahl der Taten des Odysseus. Dann macht sich die Prozession von der Magdalenen Straße auf in Richtung Theater. Rein formal ist auch die Einteilung des Abends in fünf Akte der griechischen Tragödie geschuldet. Drei Gruppen sehen diese mit Ausnahme des zweiten und fünften Aktes in unterschiedlicher Reihenfolge.
Ich gehörte der weißen Gruppe an, die mit Akt eins im zum antiken Labyrinth umgestalteten Theaterfoyer begann. Regisseur und Prinzipal Jakub Kavin versteht den Raum als die Psyche von Odysseus, die sich immer mehr in dessen Irrfahrten verliert. Die Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber arbeitet an einer Skulptur, es wird wohl noch dauern bis das Werk vollendet sein wird. Texte von Theodora Bauer, Marlene Streeruwitz, Lydia Mischkulnig und James Joyce- Max Glatz stimmt im Barbereich schon auf den Roman des Jahrhunderts „Ulysses“ ein- und der von einer Viola begleitete Gesang vermitteln ein Ambiente „großer Eintönigkeit“, wie es in einer Passage heißt, dem es nicht zu entrinnen gelingt. Unterbrochen wird dieses durch den Auftritt von Manami Okazaki, der Co- Direktorin des Hauses, die im Strahlenanzug aus Lydia Mischkulnigs Monolog über die nukleare Katastrophe in Fukushima rezitiert.
„Bewegungstheater vom Besten wird geboten (Choreographie: Claudio Györgyfalvay und Pia Nives Welser).“
„Alles ist eine Irrfahrt“ – Odyssee 2021 im Theater Arche / Marius Pasetti
Akt zwei ist so etwas wie ein Stück im Stück . In ihm widmet man sich dem „Inferno“ aus der „Göttlichen Komödie“ des vor 700 Jahren verstorbenen Dante Alighieri. Pia Nives Welser kreierte eine eindrucksvolle und staunend machende Choreographie, bei der die Akteure die Torturen der Insassen erleiden. Musikalisch begleitet werden die Szenen von dem Shooting Star Amélie Persché und dem renommierten Komponisten Ruei-Ran Wu. Ihm oblag auch die musikalische Gesamtleitung des Abends. „Klassisches“ wurde mit dem Zeitaktuellen kombiniert. Es ist eine brüchige Welt, die hier vorgeführt wird, deutlich gemacht durch ein Klavier, dem die Beine fehlen.
Den Schauplatz des dritten Aktes bildete für meine Gruppe ein Irish Pub. Man kommuniziert lebhaft, doch im Grunde herrscht Vereinsamung, Auszüge aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ vermitteln diese.
Konzentriertes Schauspielertheater ist dann im nächsten Aufzug, im sich back stage befindlichen Boudoir zu erleben. Der ursprünglich als Rückzugszimmer für feinere Damen konzipierte Ort lässt eindeutig erotische Assoziationen zu. Man denke an de Sades „Die Philosophie im Boudoir“. Hier aber werden Passagen aus „Ulysses“ gespielt. Die drei AkteurInnen sind Elisabeth Nikoletta Halikiopoulos, Charlotte Zorell, und Nagy Vilmos. Erstere gibt den Monolog der Mary Bloom in ruhiger, faszinierender und selbstbewusster Weiblichkeit. Charlotte Zorell als Domina und Nagy Vilmos als ihr Untergebener zelebrieren gekonnt das ewige Sado-Maso Spiel als Selbstfindung. Man könnte diesen Akt gewissermaßen als sinnlich-heiteres Zwischenspiel begreifen.
Bevor es zum großen Finale, dem fünften Akt kommt, wird dem Publikum eine Pause gegönnt.
Dann kommen die drei Gruppen wieder gemeinsam in den Theatersaal und die Herausforderung an sie ist eine nicht geringe. Klassische und moderne Gestalten aus der Odyssee und Ulysses bevölkern die Bühne. Die Figur des Odysseus findet in der Odyssea auch ein weibliches Pendant und ist auch als zukünftiger Odysseus wahrzunehmen.
Bewegungstheater vom Besten wird geboten (Choreographie: Claudio Györgyfalvay und Pia Nives Welser). Das große Anliegen von Regisseur Kavin (Anm. Jakub Kavin) ist es hierbei, Textlastigkeiten durch alltägliche Aktionen zu überwinden. Gängige Erwartungshaltungen, eine bestimmte Geste habe einen bestimmten Text zu unterstützen, zu enttäuschen. Zeitaktuelle Themen werden szenisch erörtert, der noch immer nicht an sein Ziel gelangte Feminismus, die gegenwärtige Pandemie oder auch die Frage, ob „Grönland noch zu retten ist“ – „Alles ist eine Irrfahrt“ – erfahren wir unter anderem. Ein starkes Bild entsteht: Die AkteurInnen schließen sich zu einer Formation zusammen, die an Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ erinnert. Alles in allem eine starke Aufführung, der man durchaus das Prädikat Gesamtkunstwerk verleihen kann.